Ich möchte hier gerne etwas zur Diskussion stellen, worüber ich mir schon länger Gedanken mache. Hier geht es nur beispielhaft um die Beschreibung der Phal. lueddemanniana f. crameriana. Auf das allgemeine Phänomen, das mir schon länger auffällt, komme ich am Ende des Textes zu sprechen.
Olaf Gruß hat 2020 in der 6. ausgabe der D.O.G. Zeitschrift "Die Orchidee" Phalaenopsis lueddemanniana f. crameriana beschrieben. Es handelt sich im Grunde um eine reinweiße Farbform dieser Art.
Er führt ein, indem er Bilder einer reinweißen Phal. lueddemanniana nennt, die im Internet als var. alba auftauchten. Als Ablehnungen gegenüber der „zweifelhaften“ Form, die im Internet kursieren würde, nennt er eine mögliche Vermischung zwischen pulchra f. alba und lueddemanniana.
Gleichzeitig blühte eine Pflanze mit reinweißen Blüten in der Gärtnerei Cramer, welche er nachfolgend beschreibt.
Nun haben Vermischungen im Phal. lueddemanniana-Komplex schon eine Geschichte, da die Arten lange Zeit nicht eigenständig waren und unter Phal. lueddemanniana als Sammel-Art teils munter miteinander verkreuzt waren. Dies schreibt auch Christenson 2001 in der Monographie. Warum also sollte eine Vermischung in der Cramer-Gärtnerei über jeden Zweifel erhaben sein? Hier führt Olaf Gruß keine Zweifel ins Felde, die Pflanze sei „eindeutig“ lueddemanniana. Dabei gibt es nicht mal mehr einen eindeutigen Herkunftsnachweis – es handelt sich einfach um eine einzelne zufällige Pflanze mit dem Etikett „Phal. lueddemanniana f. ochracea“ aus der Kollektion Cramers, die er als besondere Form beschreibt. Hier gibt es keine Reflexion oder Überprüfung anderer möglicher Merkmale, was als kritischer Betrachter und Wissenschaftler angebracht wäre.
Warum etwa wurde die Pflanze nicht geselbstet, um eine mögliche Streubreite zu testen? Falls es eine reine lueddemanniana wäre, würde man so direkt Nachwuchs/Nachkommen dieser begehrten Pflanze schaffen. Falls nicht, hätte man immerhin Klarheit. Schließlich soll es die Pflanze auch schon 40 Jahre in der Sammlung Cramer geben.
Weiterhin wissenschaftlich zweifelhaft in der Zusammenarbeit zwischen Cramer und Gruß ist für mich der kommerzielle Hintergrund Cramers. Mitnichten möchte ich Cramer vorwerfen, er sei einzig und allein an Profit interessiert. Dennoch gibt es aktuell wohl nur ein einziges valides (laut Gruß ) Exemplar der Phal. lueddemanniana f. crameriana, und wer ist hier wohl die Kontaktperson, wenn man als sammelgieriger Orchideenliebhaber ein Kindel einer solchen besonderen, nun offiziell beschriebenen Form erwerben möchte? (Tipp: Es steckt schon im Namen der Form drin!)
Sammler sind natürlich dankbar für diese „wissenschaftliche“ Einordnung ihrer Pflanzen. Gewiss haben auch Händler ein Interesse an Formen- und Varietätenbezeichnung. Denn häufig „verselbstständigen“ sich schon vor einer offiziellen Beschreibung Bezeichnungen wie „var. alba“ oder ähnliches im Handel.
Grundlage für die Beschreibung ist außerdem, dass es sich um eine Pflanze aus der Natur, also eine Wildentnahme in irgendeiner Form handelt, und keine künstlich vermehrte Pflanze. Wenn die Pflanze aus künstlicher Selektion oder Züchtung entstanden ist, handelt es sich nicht um eine Pflanze, die gemäß dem ICBN (International Code of Botanical Nomenclature), sondern nach dem ICNCP (International Code of Nomenclature for Cultivated Plants) beschrieben werden müsste. Im Umkehrschluss bedeutet die Beschreibung der f. crameriana von O. Gruß, dass es sich um eine Wildentnahme handelt. Gleichzeitig nennt Gruß, dass es keine Belege für die Herkunft und Einfuhr der Pflanze gäbe, sie „seit Jahrzenten“ in der Sammlung sei. Diese Zeitangabe präzisiert er und nennt eine Schätzung von weit über ca. 40 Jahren, ohne dass hier eine Begründung vorgelegt wird. In Kombination der Annahme, es handelt sich um eine Pflanze aus der Natur, die legitim beschrieben werden kann, ist dieses Vorgehen mindestens artenschutzrechtlich suspekt. Sollte es sich um eine besonders geschützte Pflanze aus der Natur handeln, müsste ein Berechtigungsnachweis vorliegen. Phalaenopsis sind gemäß Anhang II CITES seit 1980 besonders geschützt und unterliegen in der EU u.a. einem Besitz- und Vermarktungsverbot, was auch die Verwendung der Exemplare zu kommerziellen Zwecken verbietet. Hier ist die Angabe von „weit über 40 Jahren“ natürlich insofern passend, weil damit die Pflanze artenschutzrechtlich nicht fraglich ist, keine Besitzberechtigungen vorgelegt werden müssten, sondern lediglich eine Glaubbarmachung der Umstände. Damit stände einer Vermarktung der Pflanze auch nichts im Wege.
Jeder kann sich ja ein Bild von dieser Form machen – für mich persönlich ist das rein optisch nicht über jeden Zweifel erhaben eine Phal. lueddemanniana. Gerade das Blüten-Gruppenbild auf der letzten Seite lässt mich zweifeln- die Blütenform erinnert eher an Phal. tetraspis als an die kompaktere, kleinere Blüte der typischen Phal. lueddemanniana! Dazu sind die Blütenblätter recht spitz zulaufend und schmaler als die typische Phal. lueddemanniana. Besonders alba-Formen können hier eine Diagnose besonders schwer machen (Beispiel: Phal. violacea f. alba und Vermischungen mit Phal. micholitzii) – und meines Erachtens sollte man dort dann besonders gründlich sein.
Es mag zweifelhaft sein, ob die Benutzung naturwissenschaftlicher Methoden wirklich gerechtfertigt ist bei einem Anwendungsfall, der keinen gesicherten Bezug zum Vorkommen in der Natur hat, sondern eher Kategorisierung einer Sammelwissenschaft ist. Dieses Argument mag aber auch für viele andere Alba/Flava-Formen gelten, die möglicherweise in der Natur kaum oder gar nicht gesehen wurden, sondern nur in Kultur auftauchen und dort dann – mit nicht belegter Herkunft – als botanische Formen in einer naturwissenschaftlichen Systematik beschrieben werden.
Hypothese: Es ist möglicherweise fraglich, dass alba-Formen in einer Linie in der Natur einen Bestand haben, weil es einen Selektionsnachteil bringen kann. Schließlich machen Orchideen mit ihren besonderen und artspezifischen Farbmustern teils spezielle Bestäuber auf sich aufmerksam. Reinweiße Blüten sind hier möglicherweise soweit im Nachteil, dass sie nur schließlich vor allem durch künstliche Selektion und Sammelleidenschaft in der Kultur auftauchen. Möglicherweise gibt es aufgrund der häufig schwächeren Färbung von „flava“ oder „alba“ Formen evolutionsbiologische Nachteile. Häufig wird auch berichtet, dass alba- und flava-Formen schlechter wachsen als die „Wildformen“. Auch das spricht eher gegen ein Vorkommen in der Natur, sondern für Selektion und Zucht in der Orchideenkultur.
Grundsätzlich ist die Nutzung der Stufe „Forma“ schon üblich für Pflanzen, die explizit rein morphologische Unterschiede aufweisen, ohne dass es zusätzliche extramorphologische Unterschiede gibt (ökologisch, geografische, evolutionsbiologisch). Das prädestiniert die Forma natürlich wiederum für Sammel-Disziplinen, um „Trennern“ die Möglichkeit zu geben, besondere Pflanzen taxonomisch zu beschreiben, ohne dass evolutionsbiologische oder ökogeografische Arbeit erforderlich wäre.
Es gibt aber andere Instrumente, bestimmte Kultursorten einer Pflanze zu bezeichnen, so die Bezeichnung mittels Kultivar für Pflanzen, die „sortenrein“ sich durch bestimmte Eigenschaften auszeichnen. Dabei muss es sich nämlich nicht unbedingt um Klone handeln, sondern es kann auch generativ (aus Samen) vermehrte Pflanzen meinen, die diese bestimmten Eigenschaften behalten (laut §2.3 und 2.12 des ICNCP). Auch Christenson – den Gruß übrigens in der Literatur aufführt, aber offensichtlich nicht berücksichtigt - hat das in der Monographie für neue „Varietäten“ von lueddemanniana vorgeschlagen: „Both flower color and the degree and size of the markings are highly variable. Such variability is to be expected in a species with a wide range in an archipelago. In the absence of any data concerning the distribution of this variation in nature, only two historic varieties are recognized here. If a grower or breeder feels that recognition of a plant in cultivation requires naming, descriptive clonal names should be used rather than formal botanical names. Individual plants sometimes show variation consistent with possible introgression with other species in the complex, especially P. hieroglyphica.” (Phalaenopsis - A Monograph, S. 134)
Ich würde die Pflanze deshalb insgesamt eher als Phalaenopsis lueddemanniana ‚Crameriana‘ bezeichnen wollen. Denn
- natürlicher Ursprung der Pflanzen ist zweifelhaft
- es handelt sich um eine einzelne Pflanze
- die beschriebene Pflanze stammt aus einer Kultur
- es gibt keine genannten Hinweise auf ein Vorkommen in der Natur
- klare Herkunfts- und Altersangaben fehlen
Ich möchte abschließend betonen, dass ich es nicht ausschließe, dass die gezeigte Pflanze eine neue botanische Form darstellt. Was ich aber zweifelhaft sehe, sind die Umstände und Fehlen von Überprüfung und kritischer Reflexion im Sinne naturwissenschaftlicher Arbeit.
Wie seht ihr diese Form-Beschreibung und überhaupt Formbeschreibungen bei Orchideen? Ist es für euch wirklich naturwissenschaftlich relevant oder geht es eher darum, einer "besonderen" Orchidee einen botanischen Namen zu geben?